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Gedichte über Kummer - Seite 48


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Du? Andere?

….Der Zeitgenosse hier und jetzt
fühlt sich nervös und abgehetzt,
erschöpft, am Ende seiner Kraft,
KO, gereizt und abgeschlafft,
erledigt, fertig, aufgeschmissen,
kaputt und innerlich zerrissen,
gelähmt, zerschlagen, down, am Rand,
halbtot, bankrott und abgespannt,
ohnmächtig, müde, lahm, verdrossen,
zu kurz gekommen, unentschlossen,
durch Zäune aller Art gehemmt,
von Widerständen eingeklemmt,
entkräftet, hilflos und gebrechlich.
Kurzum: Er leidet unaussprechlich.
….Er geht zum Arzt. Nach dessen Willen
schluckt er nach jeder Mahlzeit Pillen.
Bevor er abends geht zu Bette,
schluckt er noch eine Schlaftablette
und, weil er dann noch immer wacht,
die letzte kurz vor Mitternacht.
Um morgens wieder aufzuwachen,
gießt er sich Kaffee in den Rachen
und putscht den matten Blutkreislauf
mit Koffeinkonserven auf.
Doch fühlt er sich erst richtig wohl,
trinkt er ein Gläschen Alkohol.
..Er schätzt Bewegung, Schwimmen, Wandern,
doch überlässt er es den andern,
sitzt fest im Auto und Büro
und zwischendurch auch anderswo,
obwohl durch endogene Stauung
er Mühe hat mit der Verdauung.
….Auch dafür, anders als sein Vater,
sucht Hilfe er beim Psychiater,
der in der Seele, die rumort,
hartnäckig in die Tiefe bohrt
und ihm darauf, auf seine Art,
Geheimnisvolles offenbart.
….Mit täglicher Gymnastik treibt er,
weil immer schwerer und beleibter,
den Kummerspeck von seinen Knochen.
Doch was er abnahm in drei Wochen,
das nimmt er unbemerkt im Nu
in knapp drei Tagen wieder zu.
Statt dreißig Zigaretten raucht
er zwanzig, weil er die ja braucht,
schwärmt für Produkte der Natur,
macht in Bad Füssing jährlich Kur,
lutscht Minerale, Vitamine,
isst Müsli, Joghurt, Margarine,
Rohrzucker, Obst und Sauerkraut,
das er mit sehr viel Speichel kaut.
Dazwischen ein Reformhaustrank.
Trotzalledem fühlt er sich krank,
was er, weil´s ihn so furchtbar quält,
ausführlich jedermann erzählt.
….Man fragt sich da mit gutem Grund:
Wer ist denn überhaupt gesund?
Was ist gesund, und was ist krank?
Was alt, was jung? Was dick, was schlank?
Wer bildet Krankheit sich nur ein?
Wer macht sich vor, gesund zu sein?
….Kein Leser muss erschreckt erblassen.
Es bleibt ihm selber überlassen,
ob er sich krank fühlt oder nicht,
ob´s ihm an Medizin gebricht,
ob er die Ärzteschaft befragt,
beziehungsweise sich versagt;
wie weit er, was sich auf ihn legt,
gern oder nicht so gern erträgt,
ob er sich gar nur glücklich fühlt,
wenn er in seinem Unglück wühlt,
so dass er dieWehwehchen braucht,
als ob er Zigaretten raucht.
Trotz höchstem Nikotingehalt
Wird er dann hundert Jahre alt,
und mancher Depressive scheidet,
obgleich er doch so schrecklich leidet,
den Depressionen hingegeben,
auch erst mit hundert aus dem Leben.


Silesio
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Frau X und Herr Ypsilon

….Frau X, begabt mit frohem Sinn,
kratzt sich bedeutungsvoll am Kinn
und spricht am Ende eines Jahres
zufrieden und erfreut: Das war es.
Ich konnte mir verschied`nes gönnen,
es hätte schlimmer kommen können,
und ist auch vieles in der Schwebe,
Hauptsache ist es, dass ich lebe.
Mit Energie und eigner Kraft
hab ich Erstaunliches geschafft.
Wenn andre auch vor Ärger toben,
ich muss mich wirklich selber loben.
Es gilt, Vertrauen zu entfalten.
Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten,
und sicher wird das nächste Jahr
noch besser, als das letzte war.
,,,,Herr Ypsilon, von Sorgen blass,
fragt sich erschüttert: War es das?
Ich hab mir nichts gegönnt, trotzdem
war´s eher trist als angenehm.
Die Erde ist ein Jammertal,
mit einem Wort: Katastrophal.
Ich hab´s versucht mit aller Kraft;
umsonst, ich bin so abgeschlafft,
dazu, sieht das auch keiner ein,
ein ganz besonders armes Schwein.
Entgegen all den Fortschrittsphrasen
muss ich entschieden Trübsal blasen.
Wahrscheinlich wird das nächste Jahr
noch schlimmer als das letzte war.
….O Leser, Menschen sind verschieden,
zufrieden oder unzufrieden,
dick oder dünn, klug oder dumm,
gerade denkend oder krumm.
Der eine gibt zu Protokoll:
Das Glas des Lebens ist halbvoll.
Der andre sagt gedankenschwer:
Mein Lebensglas ist schon halb leer.
Der zeigt sich ruhig, der ergrimmt.
Was ist empfehlenswert? Was stimmt?
Es kommt, so sagt ein weiser Mann,
ganz auf die Perspektive an,
denn je nachdem, wie man´s besieht,
ist es ein Riesenunterschied.
Ein andrer Blick zur rechten Zeit
eröffnet neue Wirklichkeit.
….Deshalb mein Rat Dir zum Geleite:
Beschau´s mal von der andern Seite.
Vielleicht erfährst Du: Ei der Daus!
Dasselbe sieht ganz anders aus.
Ich wünsch Dir zu Beginn des Jahrs
am ersten Tag des Januars
vor allem einen klaren Blick,
verbunden mit ein bisschen Glück
und, kommt´s Dir kaum erträglich vor,
was immer hilfreich ist: Humor.
Silesio
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