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Gedichte Über Sterben - Seite 27


"Lasst mich doch endlich gehen!"

„Lasst mich doch endlich gehen!“

Man hatte aus der Klinik ihn geholt,
Wollte an Weihnachten ihn bei sich haben,
Bei der Familie, bei hellem Weihnachtsbaum
Und mit ihm sein, wie all die vielen Jahre.

Er lag, geschlossen seine grauen Augen,
Auf diesem alten Sofa, schwer in Atem.
Die Flasche führte Sauerstoff zu ihm,
Zur Nase – und er lag unbeweglich da.

Nach Weihnachten kam er zurück,
Ins Krankenhaus, wo man ihn überwachte;
Und dennoch saßen sie tagtäglich
An seinem Bett, ließen ihn nicht gehen.

Einmal, im Januar, da hatte er dann
Jenes Moment, um frei zu sprechen:
„Lasst mich doch endlich gehen!
Warum holt Ihr mich denn zurück?“

Betroffen sahen sie sich in die Augen,
Als in die Stille dieser flehentliche Hall
Und er dann wieder rasch in seine Welt
Der Atemschwere notlebend abkippte.

Gehörte er doch zu der Generation,
Die im Krieg war und damals erlebte,
Wie dabei Klassenkameraden fielen,
Gar nicht mehr sprachen, nicht aufstanden.

Darüber konnte, wollte er nicht sprechen,
Weinen konnt' er nur in sich leis' hinein.
Er wusste ja: Keiner konnt' wirklich ermessen,
Was jener Teufelshund den jungen Seelen brockte ein.

Keiner verstand, warum er gehen wollte,
Wenn sie an seinem Bette saßen,
Er keinen Augenblick allein dort atmen konnte,
Damit der Tod zum Vaterlosen ja nicht kam.

Im Frühjahr fuhren sie zur Augendiagnose,
Ihn, dort zu sehen auf den Augenhintergrund.
Da sah der Heilpraktiker nur ein dunkles Feld,
Aus dem das Leben nicht mehr sprach.

So fuhren sie ihn wieder heim,
Von da aus wieder in die Klinik,
Wo Tag und Nacht Verwandte
Ihm nah am Bette saßen.

Erst Pfingsten dann in lichtem Augenblick
Sagte er mit geschlossenen Augen:
„Ich habe schon gemerkt, dass er da war.“
Der Sohn war da, und er fiel in die Dämmerwelt.

Nun schien er endlich leichter zu atmen,
Trank auch ein wenig Spargelwasser,
So dass die Ehefrau um Mitternacht heimging,
Während die Kinder längst auf Reisen waren.

Am Morgen wurde sie vom schrillen Telefon
Aus ihrem Tiefschlaf jäh herausgerissen.
Ihr lauter Schrei, ihr Weinen zeigte an:
Er war nicht mehr, er hatte ausgelitten.

Noch jahrelang trieben sie Vorwürfe,
Warum sie ihn allein gelassen hatte.
Doch ist es nicht so, dass nur gehen kann,
Wen man schließlich auch gehen lässt?


©Hans Hartmut Karg
2020

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Gewogen

Die Waage des Lebens wägt uns hin und her,
wir nehmen ‘s leicht, dabei sind wir zu schwer.
Das normale menschliche Leben
Ist kein einfaches Nehmen und Geben.
Da wird gewiegt, gewägt und gewogen
und letzten Endes dann doch betrogen.

Damit es nicht auffällt auf der misstrauischen Welt,
gibt es verschiedene Waagen, je nach Gewicht und Geld.
Die erste Waage in meinem Leben
ist eine Schale aus feinem Blech gewesen.
Dort wurde ich schreiend hineingehoben
und außen wurden zwei Gewichte geschoben.

Sie wurde später einfach weggeschmissen,
weil sie eine Fliegerbombe zerrissen.
Später, wenn man alleine stehen kann,
musste die Personenwaage ran.
Mechanisch, elektrisch und elektronisch rammelnd,
gab es sie auch Münzen sammelnd.

Jeder Bahnhof, der nicht an Ausstattung sparte,
druckte das Gewicht auf eine ehemalige Bahnsteigkarte.
Bei den Doktoren geht es unterschiedlich zu,
mal mit und mal ohne Schuh.
Das Gewicht uns nicht so erschreckt,
wird die Anzeigetafel verdeckt.

Nur bei der stabilen Dezimalwaage
stehen die Gewichte auf der Auslage.
Unterschiedlich ist dort die Wiegegutaufnahme,
von der kleinen Kartoffel bis zur Schweinedame.
Beim Handel gilt es mehr für die kleinen,
die mit den klebenden und bedruckten Scheinen.

Die einfachste Waage, nur zum Vergleichen,
kann jeder auf dem Spielplatz erreichen.
Die kleinste Waage wiegt dem Juwelier Gold,
bei der größten gleich das Auto drüber rollt.
Die letzte Waage, die sich einst zu mir gesellt,
ist die Wasserwaage, wenn man meinen Grabstein aufstellt.

21.03.2020©Wolf-Rüdiger Guthmann
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