Er stand auf dem Eisberg. Um ihn herum das weite, offene Meer.
Er schaute nach unten und dachte: „Das wird ein hartes Stück Arbeit“.
Dann kniete er sich nieder, zog seine Handschuhe aus und legte seine Hände auf die schroffe Oberfläche.
Seine Absicht war, mit der Wärme seiner Hände den Eisberg zum Schmelzen zu bringen.
Langsam erzielte er erste Erfolge. Die Oberfläche begann sich zu verflüssigen und ebnete die leichten Unebenheiten.
*
Er setzte sich auf den Stuhl, der hinter dem Tisch im Untersuchungsraum Zwei stand.
Auf der anderen Seite saß der mutmaßliche Täter.
Freundlich aber bestimmt drang der stechende Blick des Kriminalkommissars in die Augen seines Gegenübers, der in der unbekannten Umgebung wie ein Häuflein Elend wirkte und daraufhin schnell zur Seite blickte.
„Ich weiß, dass sie es getan haben.“ sagte der erfahrene Kommissar und ergänzte: „Wenn ich sie überführt haben werde, was nur eine Frage der Zeit sein wird, wird die Welt von einem Teil des Bösen erlöst sein!“
Dann legte er seine Hände, zur Faust geballt, auf den Tisch.
Sein Gegenüber schien in sich zu versinken und man sah ihm an, dass es für ihn eine große Anstrengung war, vor dem Kommissar zu bestehen.
*
Der Kapitän schaute angestrengt nach vorne. Vor ihm schwamm ein großer Eisberg.
Jemand kniete dort auf ihm, doch es war nicht zu erkennen, was er dort tat.
Der Kapitän liess die Maschinen stoppen. Das schwerfällige Erkundungsschiff näherte sich behutsam dem Koloss von Eis.
Er wusste, dass unter der Wasseroberfläche scharfkantige Eisausläufer seinem Schiff gefährlich werden konnten.
Nur noch einige Meter vom Mann entfernt, lehnte er sich über die Reling und sprach laut hinüber:
„Brauchen Sie Hilfe ?“
Der Mann drehte sich ihm zu und antwortete: „Ja! Ich brauche einige hilfreiche Hände, die mich unterstützen, den Eisberg zu schmelzen.“
„Warum ?“ fragte der Kapitän.
„Weil dieser Eisberg eine Manifestation des Bösen ist und aufgelöst werden muss !“.
Der Kapitän blickte ihn interessiert an: „Das ist eine noble Tat, die ich nur unterstützen kann. Ich werde einige Besatzungsmitglieder hinüberschicken.
Damit sollten wir das Böse schneller bezwingen können!“
„Danke“
*
Endlich hatte er von seinem Gegenüber ein Geständnis erpressen können. Seine langjährige psychologische Ausbildung ließ ihn triumphieren. Wie so oft!
Das Aufnahmegerät hatte alles mitgeschnitten. Freudig verließ er damit den Untersuchungsraum.
„Diese Menschen widern mich an ! .. Wie konnte man nur so schlechte Dinge sagen und verbreiten ?“ dachte er und ging zum Kaffeeautomaten, um sich mit einem Cappuccino zu belohnen.
„Zum Glück gibt es Recht und Gesetz. Diese geisteskranken Rebellen, die sich allem entgegen stellen, lassen das Böse in der Gesellschaft wachsen.
Nur gut, dass es Menschen wie mich gibt, die den Mut haben, sich dem entgegen zu stellen.“
*
Die Mannschaftsmitglieder waren jetzt schon einige Zeit auf dem Eisberg und erwärmten die Oberfläche.
Erschrocken stellten sie fest, dass er in die Breite zu wachsen schien. Was sie nicht bedachten war, dass er sich immer mehr aus dem Wasser erhob, jedoch durch ihre Arbeit die Oberfläche immer flacher und ebener wurde.
Die Ränder wurden immer scharfkantiger, doch die Oberfläche des Eisbergs wurde flach und glatt.
Von weiter her konnte er deshalb leicht übersehen werden.
*
„Feierabend“ sagte er und ließ sich erschöpft in der Küche auf seinen Stuhl sinken. Er bewohnte eine schlichte Eigentumswohnung im vierten Stock, eines sechsstöckigen Gebäudes, in der Stadt.
In Gedanken ging er noch einmal das Verhör durch. Was hatte der Beschuldigte noch gesagt:
„Ich weiß, in ihrer Welt wird ein Lächeln zu einer Bedrohung,
Zuneigung zur Manipulation und Liebe zu einer hinterhältigen Absicht.
Das sind die Zeichen einer vom männlichen Ego dominierten Gesellschaft. Eines menschenfeindlichen Systems, das die Monster erzeugt, die es zu bekämpfen vorgibt.
.. was für ein esoterischer Spinner !“.
Nach dem Abendbrot schaute er die Nachrichten, sah sich einen von Gewalt beherrschten Film an, bei dem zwanzig Minuten vor Schluss, der halbtote Held, plötzlich wieder voller Energie, den Bösewicht in einem mitreissenden Finale besiegen konnte. Dabei überwand der Held, seine am Anfang aufgezeigte größte Schwäche und bekam in letzter Sekunde die Hilfe seiner Freunde.
In Ruhe legte er sich zum Schlafen nieder, las noch ein paar Seiten eines Krimis und legte es müde zur Seite. Sein letzter Gedanke war: „Hoffentlich werde ich mal wieder gut schlafen“.
*
Der Kapitän traute seinen Augen nicht. Eine riesige Welle kam von der Seite. Er hatte sie zu spät bemerkt. Die meisten der Mannschaft waren immer noch auf dem Eisberg. Jede Warnung kam zu spät.
Mit einem fürchterlich berstendem Geräusch schob die Wasserwand das Schiff auf den scharfen Rand des Eisbergs. Sofort zerbarst der Rumpf an seiner empfindlichsten Stelle. Das Schiff kenterte und auch der Eisberg kippte stark zur Seite. Schneller als für möglich gehalten, sank das Schiff. Auf dem Eisberg versuchten sich alle festzuhalten, doch das glatte Eis gab ihnen keinerlei Halt. Schnell rutschten sie in das eiskalte Wasser.
Zuletzt sah er, wie all seine Hoffnung im Meer versank und auch er rutschte und fiel.
Mit schreckgeweiteten Augen schoß er schweißüberströmt aus seinem Bett.
„Schon wieder dieser Scheiß Albtraum !“ sagte er zu sich selbst und dachte kurz
„Ob mir das wohl etwas sagen will ?
.. Was für ein Quatsch, Träume sind nur irre Gedanken des Unterbewusstseins ohne Sinn“.
Er ging ins Badezimmer um sein tägliches Ritual der Körperreinigung durchzuführen. Anschließend machte er sich einen Kaffee, setzte sich an seinen kleinen Tisch, nahm eine Zigarette aus der angebrochenen Schachtel, entzündete sie und steckte sie genussvoll in seinen Mund. Dann nahm er sein Handy, studierte die Nachrichten und sah sich die letzten Memos an.
Eine Nachricht war wichtig: „Ab sofort ist jedwede Kritik am System strafbar“. Er sagte sich „So ist’s Recht !“.
Wenn er seinen Fokus verändert hätte, so wäre ihm aufgefallen, dass sich auf dem spiegelnden Display seines Smartphones ein von Hass verzehrtes Gesicht zeigte, wie jeden Morgen.
*
Wird ein Lächeln zur Bedrohung,
Zuneigung zur Manipulation,
die Liebe zur hinterhältigen Absicht
So bist Du im Raum der Verrohung,
der Faszination
einer verdrehten Sicht
auf das wahre Licht
In der Gestalt
der Gewalt
von Verführung, Lug
und Betrug
Opfer bist Du
im nu
und später ..
selber Täter
Mit der Zeit
bereit
und wirkst als Verräter
an der guten Menschheit
© jogdragoon
Bibat ex me qui potest