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Gedichte zur Dunkelheit - Seite 120


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Alwei und Jule im Sturm

Die junge Weide blicke in den Himmel. Ein alter Eichenbaum stand in ihrer Nähe.
Sie nannte ihn “Alwei” und meinte damit “alte, weise Eiche”.
Der alte, stämmige Eichenbaum schien gedankenverloren in die Ferne zu blicken.
Er hatte vor ein paar Jahren der jungen Weide den Namen “Jule” gegeben. Das stand für “junges Leben”.
Die Weide wandte sich der alten Eiche zu und sprach “Alwei, der Himmel verdunkelt sich !”.
Der alte Eichenbaum war gedankenversunken, wartete einen Augenblick und sagte dann:
“Ja Jule, eine schöne Zeit findet ihr Ende und weicht einer Zeit der Herausforderungen”.
“Wie meinst Du das ?” fragte die Weide.
Alwei antwortete: “Wir hatten eine wundervolle Zeit der Wärme, des liebevollen, lebendigen Licht- und Schattenspiels der Natur,
der ergiebigen Fülle, des Wachstums und des Wohlbefindens.
Nun wird sich das alles in sein Gegenteil verkehren.”
Jule erwiderte: “Du meinst es gibt einen Grund, Angst zu haben ?”
Die Antwort kam sofort: “Es gibt einen Grund, sich auf kommende Ereignisse vorzubereiten und sich seinen Ängsten zu stellen, um sie zu überwinden !”
“Was wird denn kommen und wie kann ich mich vorbereiten ?”
Die junge Weide blickte erwartungsvoll auf den alten Stamm der Eiche.
Alwei sagte: “Niemand weiss genau, was kommen wird, jedoch ermöglichen klug reflektierte Erfahrungen einen Blick in eine wahrscheinliche Zukunft”
Er schaute gen Himmel und ergänzte:
“Es wird ein großer, lang anhaltender Sturm kommen.

Blitze werden vom Himmel hernieder fahren und es wird einen starken Regenguss geben”
Nach einem Moment der Stille fuhr er fort zu erzählen:
“Nachdem ich so viele wundervolle Jahre auf dieser Welt verbracht habe, sehe ich,
dass es für mich an der Zeit ist, zu gehen.
Ich bin sehr dankbar, dass ich mich so weitreichend entwickeln konnte und den Klängen der Schöpfung,
dem Gesang der Vögel, dem Rauschen des Baches und des Regens, lauschen durfte.
Zeiten voller Liebe, voller geduldiger Ruhe, voller Spaß und Freude.
Voller guter Absichten habe ich vielen Lebewesen einen Lebensraum geboten,
Vögel und Eichhörnchen haben Nester in mir gebaut.
Insekten fanden in meiner Rinde ein Zuhause, ohne mich zu arg zu verletzen.
Meine Eicheln und Blätter haben Tiere genährt,
den Boden gedüngt und auch den Rehen konnte ich Schutz geben.
Doch das Leben hier ist ein Kreislauf und für jeden der kommt, muß einer gehen.
Das gilt immer in einem beschränkten Raum, in dem ein Gleichgewicht der Kräfte wirkt !”
“Ich will nicht, dass Du gehst !” sagte Jule niedergeschlagen herabblickend:
“Alwei, ich brauche Dich, Deine Weisheit, Deinen Mut, Deinen Schutz und Deine positive Ausstrahlung”
Die Eiche schaute bedächtig in den Himmel und sagte: “Das alles hast Du bereits von mir bekommen !
Nun ist es an Dir, aus Gelerntem, Gedanken, Worte und Handlungen erwachsen zu lassen.
Sei nicht traurig, jede Zeit kommt und jede Zeit geht. Und mit der Zeit kommen und gehen wir alle !
Und wenn ich gehe, so werde ich in eine andere Form des Seins transformiert.
Denn “zu gehen” bedeutet, sich von einem Ort zu einem anderen zu begeben.
Dabei kann man sehr viel zurücklassen, sogar seinen Körper.
Es geht jedoch der Geist, die Seele und das eigene Sein auf Reisen,
durch die zeitlose Unendlichkeit der Möglichkeiten.”
Die Weide brauchte einen Moment, um die Worte auf sich wirken zu lassen und versuchte sich alles einzuprägen.
Alwei sah das und ergänzte:
“Versuche nicht, jedes Wort von mir auf die Goldwaage zu legen und alles auswendig zu lernen.
Deine Seele hat bereits den Inhalt meiner Botschaft verstanden.
Wenn es an der Zeit ist, wirst Du Dich erinnern und zwar so, dass Du das Gesagte verstanden haben wirst !”
Alweis und Jules Äste begannen sich im plötzlich aufkommenden Wind heftig zu bewegen.
Alwei sprach: “Meine liebe Jule, habe keine Angst!
Achte immer auf die Standfestigkeit Deiner Wurzeln und auf das, was um Dich herum geschieht.
Ich bin zwar groß, mächtig und stark und wirke wie ein Fels in der Brandung,
doch ein Blitzeinschlag, starker Sturm und regendurchnässter Boden, werden mich zu Fall bringen.
Biege Dich mit dem Wind, dann kann er Dir nichts anhaben,
doch vergesse nicht, Dich nach dem Sturm wieder aufzurichten!
Ansonsten wird Dich ein Wind von der anderen Seite her zerbrechen !”
Ein sehr starker, kalter Regenguß ließ große Wassertropfen über den trockenen Boden hüpfen.
“Wirst Du nun gehen ?” fragte Jule.
Alwei erwiderte: “Die nächsten Tage noch nicht! Der Boden ist zu fest und meine Wurzeln gehen tief !
Wenn aber der Boden durchweicht wurde, mich ein Blitz trifft oder der Sturm anhält,
dann werde ich Dich verlassen müssen,
... So lieb ich Dich auch gewonnen habe !”
Jule sagte hoffnungsvoll: “Das beruhigt mich dann ja doch, denn es ist nicht gewiss, wie lange der Sturm und Regen anhalten werden
und vom Blitz getroffen zu werden, ist ja auch eher selten !”
“So ist es !” entgegnete Alwei, obwohl er im Innersten wusste, dass seine Zeit gekommen war.

*

Der Mensch ist nur so gut,
wie das, was er denkt, sagt und tut

Er sei geduldig und züchte
große, reife Früchte
Doch essen sollte er sie Beizeiten
denn unreif oder vergammelt bereiten
sie Unannehmlichkeiten

Im Gewittersturm geschwind
biegen sollte er sich mit dem Wind
Denn wer sich dem Sturm entgegen stellt
der fällt !

© jogdragoon
Bibat ex me qui potest
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Der Hund

Es gibt Tage,
da geht alles irgendwie weiter.
Ich steh auf.
Ich ziehe mich an.
Ich rede.
Ich funktioniere.
Aber in mir…
da ist etwas, das nie zur Ruhe kommt.

Ein schwarzer Hund.
Er läuft neben mir,
auch wenn ich versuche, ihn nicht zu sehen.
Er ist einfach da.
Immer schon.
Seit damals.

Es gibt Tage,
da bin ich leer.
Nicht traurig.
Nicht wütend.
Einfach… nichts.
Und niemand sieht es.
Ich lache,
ich funktioniere,
ich bin da
aber nicht wirklich.

Denn da ist etwas,
das immer mitläuft.
Ein Schatten.
Ein schwarzer Hund.

Ich habe ihm nie einen Namen gegeben.
Vielleicht,
weil ich dann zugeben müsste,
dass er wirklich da ist.
Und dass er zu mir gehört.

Er kommt nicht laut.
Nicht plötzlich.
Er ist einfach da.
Morgens.
Nachts.
Wenn ich mich frage,
ob ich es jemals schaffe,
wieder ganz ich zu sein.

Ich habe gelernt,
an ihm vorbeizusehen.
Ich spüre ihn in meinem Rücken,
wenn ich mich wie aus dem Nichts
wieder schmutzig fühle.
Wenn mein Herz rast,
und ich nicht sagen kann warum.
Wenn ich aufwache
mit einem Schmerz im Körper,
der keine Worte kennt
nur Erinnerungen.

Ich weiß, woher er kommt.
Ich erinnere mich.
An alles.
An ihn.
An mich.
An mein „Nein“,
das niemand hören wollte.
An meine Angst,
meine Erstarrung,
meine Einsamkeit danach.

Ich habe überlebt.
Aber ich bin nie ganz weitergegangen.
Ein Teil von mir ist dort geblieben.
In dieser Nacht.
In diesem Zimmer.
In dieser Haut,
die nicht mehr meine war.

Und der Hund
er ist die Erinnerung daran.
An das, was nie gesagt wurde.
Nie gefühlt werden durfte.
Nie gehalten wurde.
Auch nicht von mir selbst.

Ich habe versucht,
ihn zu ignorieren.
Mich selbst zu ignorieren.
Hab mich geschämt,
gehasst,
verurteilt.
Hab gesagt:
„Du hättest es wissen müssen.“
„Warum hast du ihn reingelassen?“
„Warum warst du so schwach?“
Und der Hund
hat mir dabei zugesehen.

Ich weiß,
dass er nicht mein Feind ist.
Nicht wirklich.
Aber ich hab Angst,
ihn anzusehen.
Denn ich weiß:
Wenn ich ihn wirklich anschaue,
dann sehe ich auch mich.
In meinem Schmerz.
In meiner Ohnmacht.
In meiner tiefsten Wahrheit.

Und ich weiß nicht,
ob ich das aushalte.

Aber tief in mir
ist da auch eine andere Stimme.
Ganz leise.
Ganz warm.
Sie sagt:
„Du musst ihn nicht sofort umarmen.
Aber vielleicht…
kannst du dich irgendwann zu ihm setzen.
Ganz vorsichtig.
Ohne Worte.
Nur da sein.“

Vielleicht
kann ich ihm dann sagen:
„Ich hab dich lange weggeschoben.
Weil du mich an etwas erinnerst,
das zu groß war für ein kleines Mädchen.
Aber ich bin heute größer.
Nicht unversehrt.
Aber lebendig.“

Vielleicht
kann ich ihm dann die Hand reichen.
Zittrig.
Ehrlich.
Nicht, um ihn wegzuschicken.
Sondern, um ihm zuzuhören.

Vielleicht
kann ich dann endlich mir selbst zuhören.

Und vielleicht
kann ich dann sagen:
„Ich bin noch nicht geheilt.
Aber ich bin bereit,
nicht mehr ganz alleine zu sein.“

Bis dahin
laufe ich weiter.
Mit Abstand.
Mit Angst.
Aber auch
mit dem ersten leisen Wunsch,
nicht mehr wegzusehen.
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