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Gedichte über das Auto - Seite 24


Der fremde Mann

Die Morgensonne reflektiert im alten Audiblech. Sie blendet mich. Der Rost frisst sich in den weißen Lack am Kotflügel. Nummernschilder und auch die TÜV - Plakette sind unleserlich. Am Rücksitz liegen ein grauer Schlafsack, eine Mehrfachsteckdose und eine Menge Klamotten. Vorne, am Beifahrersitz ein aufgeschlagenes Buch und eine alte Zeitung.

Der Mann, der hier seit einem Jahr schläft, grüßt immer freundlich und redet ein paar Worte über´s Wetter oder die Politik. Täglich verrenkt er sich bei seinen Gymnastikübungen hier am Parkplatz. Ziemlich fertig ist er manchmal. Dann trinkt er gierig mit hochrotem Kopf eine Flasche Wasser aus. Bei Wind und Wetter sieht man ihn turnen.
Wenn Polizisten Streife fahren, halten sie kurz an und bringen ihm frisches Brot oder Brötchen vom Bäcker.
Alle, die ihm begegnen, mögen den sonderbaren Kautz, aber keiner weiß, warum er hier im Auto lebt. Er könnte eine Wohnung und Hilfe vom Staat beanspruchen, aber das will er nicht. Man weiß nur, dass er promoviert und bessere Tage hinter sich hat. Keiner hat ihn je ungepflegt gesehen. Sein Wissen ist breit gefächert und sein Umgangston sehr höflich. Manchmal rezitiert er alte Klassiker. Goethes Faust kennt er auswendig, aber dafür interessiert sich keiner der Leute, die mit ihm politisieren wollen.

***

Heute ist das Wetter so, dass man keinen Hund vor die Türe jagt. Mein Dackel hat auch keine Lust, bei Schneeregen und Sturm Gassi zu gehen.
Trotzdem marschiere ich mit ihm den gewohnten Weg. Der Fremde ist nicht zu sehen. Merkwürdig - er ist eigentlich immer da.
Als ich näher komme, sehe ich auf der Kühlerhaube vier Grabkerzen brennen....


(C) Ingrid Bezold


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