Nachdem Tina Eipas ihr Tagewerk verrichtet hatte, kochte sie sich einen Becher Jasmin Tee und setzte sich damit auf die rustikale Holzbank, die vor ihrem Haus stand.
Sie lauschte entspannt den Klängen der Natur, um sie in sich aufzunehmen.
So ließ sie die Anspannung des Tages von sich fallen und genoß sichtlich die Bewegungen des Lebens.
Ihr Hund sprang wild umher und lief in den nahegelegenen Wald.
Tina störte das nicht, denn sie vertraute ihm und wusste,
dass er bald von alleine wieder zurück kommen würde.
Plötzlich erschien ein Wanderer.
Er war ganz aus der Puste, als er vor ihr stehen blieb.
Tina freute sich über den unerwarteten Besuch und sagte:
"Setzen Sie sich ruhig neben mich.
Möchten Sie auch einen Jasmin Tee ?
Ich habe gerade einen aufgegossen."
Er setzte sich hin und antwortete: "Gerne !"
Tina ging ins Haus und kam kurz darauf mit einem weiteren Becher Tee zurück.
Sie überreichte ihn dem Fremden, lächelte ihn an und setzte sich unbeschwert neben ihn.
Er nahm den Tee und man sah ihm an, dass die Anstrengung mit jedem Schluck, den er nahm, von ihm abfiel.
Dann begann er sich vorzustellen:
"Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft.
Ich bin Jan Archer und suche Tina Eipas. Ich vermute, dass Sie das sind ?!"
Freundlich antwortete sie:
"Ja, die bin ich. Wie komme ich zu der Ehre ?"
Tina schaute ihn erwartungsvoll an und nahm einen weiteren Schluck ihres Tees.
Er blickte um sich, um sich zu orientieren und umschloss mit beiden Händen den wärmenden Becher.
"Ich habe schon viel von Ihnen gehört und habe eine Bitte.
Es ist schon spät und ich habe leider nicht viel Zeit, deshalb muss ich leider mit der Tür ins Haus fallen."
Er seufzte und Tina erwiderte:
"Wenn Sie wieder zur Ruhe gekommen sind, bin ich gerne bereit, ihnen zuzuhören.
Ich weiß, dass der Abstieg vom Berg seine Zeit braucht und gerade jetzt, im Herbst,
senkt sich die Sonne schnell.
Der Untergrund ist teilweise rutschig und der Weg zurück sollte vorsichtig und in Ruhe gegangen werden."
Tina machte eine kurze Pause, bis sie fortfuhr:
"Von mir aus können wir auch gerne 'Du' sagen."
Er drehte sich zu ihr und erwiderte: "Das ist für mich völlig in Ordnung !"
und überlegte, wieviel Zeit ihm blieb.
Tina fragte: "Was ist denn Deine Bitte ?"
Jan suchte nach den richtigen Worten, trank noch einen Schluck Tee und antwortete:
"Meine Freunde und ich haben uns gestritten. Da wir alle wütend aufeinander waren, habe ich angeboten, eine unbeteiligte Person zu befragen, was denn nun richtig ist.
Dabei fiel Dein Name und ich habe mich bereit erklärt, Dich um einen Rat zu bitten"
Tina lächelte freundlich und sagte:
"Das freut mich sehr. Gerne helfe ich. Worum geht es denn ?"
Jan schaute Tina an:
"Meine Freunde und ich standen heute Morgen auf einer Wiese und übten Bogenschießen.
Hans war dran. Johann stand ein paar Meter links und Peter ebenso weit rechts von Hans.
Wir hatten in einiger Entfernung eine Zielscheibe aufgestellt.
In der Mitte war ein gelber Kreis, darum herum dann Ringe in Rot, Orange, Blau und Weiß.
Hans schoß seinen Pfeil ab und traf in den roten Ring, gleich links neben dem gelben Zentrum."
Tina stellte sich die Szene vor und fragte:
"Ja .. und was ist dabei das Problem ?"
Jan blickte auf seinen Becher und ergänzte:
"Wir gerieten in Streit darüber, wer Recht hat:
Johann, der links stand, hatte den Pfeil im Zentrum gesehen und sagte: 'Getroffen'.
Peter sagte 'Daneben'.
Hans schaute sich das Ergebnis seines Schusses an und sagte: 'Na, ja!'.
Johann hat offensichtlich, aus seinem Blickwinkel heraus, den Pfeil im Ziel gesehen.
Das konnten wir schnell klären, als wir uns die Zielscheibe genau angesehen haben.
Dann stellte sich die Frage, wer alles im Irrtum war ?
Jeder behauptete von sich in seiner eigenen Wahrheit zu sein !”
Tina setzte sich zurück und schaute nach unten um zu überlegen.
Der Teebecher wärmte immer noch ihre Hände, doch sie bemerkte, dass der Tee merklich abgekühlt war.
Dann blickte sie wieder auf und antwortete:
"Ach so, ... ich verstehe!
Als erstes gilt es zu erkennen, welche Arten von Irrtum es gibt.
Es gibt den Irrtum der Wahrnehmung.
Das ist der Irrtum, dem Johann zum Opfer gefallen ist.
Du hast das ja schon beschrieben.
Dann gibt es den Irrtum der falschen Zielvorstellung in Verbindung mit der eigenen Erwartung.
Das bedeutet, dass man ein Ergebnis erwartet, dass dann nicht eintrifft.
Dem könnten Peter und Hans erlegen sein.
Um einen Irrtum von Hans und Peter benennen zu können, habe ich mal eine Frage:
Warum hat der Pfeil von Hans, links vom Zentrum getroffen ?"
"Ich hatte ihn noch gefragt, warum er 'Na, ja!' gesagt hatte und er antwortete mir:
'Ich habe links neben das Zentrum gezielt und hatte den leichten Wind von links mit eingerechnet.
Doch gerade in dem Moment, als ich den Pfeil losschnellen ließ,
verstummte der Wind und der Pfeil traf genau dort, wohin ich gezielt hatte'."
Tina blickte wissend:
"Das habe ich mir gedacht !
Damit wären wir bei dem Irrtum von Peter:
Er ging davon aus, dass der Bogenschütze Hans einen Fehler begangen hat.
Hat er aber nicht !
Hans hat genau das Ziel getroffen, auf das er gezielt hatte.
Hans hingegen verfiel dem Irrtum der Erwartung und Vermutung von dem, was kommen wird.
Er meinte, dass das, was kommen wird, dem entsprechen würde, was gerade ist - und hatte seinen Schuß danach ausgerichtet.
Doch das Leben, in Form der veränderten Windverhältnisse, hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Dadurch hat er zwar das getroffen, worauf er zielte, jedoch war das nicht das Ergebnis,
dass er sich gewünscht hatte."
Jan sah sie verwundert an, dann klärte sich sein Blick:
"Ja, so ist es !"
Tina sah zum Himmel. Es war an der Zeit, dass er ging.
"Könnte denn noch einer einem Irrtum unterliegen ?"
fragte Tina und schaute Jan herausfordernd an.
Der dachte angestrengt nach:
"Ich wüsste nicht."
Tina fuhr fort:
"Vielleicht Du ?"
Jan schaute irritiert:
"Wieso ich ?"
Tina stellte den Becher neben sich auf die Bank und streichelte ihren Hund,
der vom Spielen im Wald zurück gekommen war und sprach weiter:
"Warst Du es nicht auch, der mit angenommen hat, dass mindestens einer in seiner eigenen Wahrheit war ?"
Etwas ungeduldig ergänzte sie noch:
"Ich sehe einen Irrtum nicht als Fehler an, sondern als etwas, das uns ständig begleitet.
Weisst Du Jan, ich glaube daran, dass es nur eine Wahrheit gibt und diese sich
nach dem Glauben des Betrachters entsprechend anzupassen versucht.
Dennoch ist es für mich so, dass eine “meine, deine, eure und eigene Wahrheit” nur Glaubenskonstrukte sind.
Ein Glauben, von dem die Menschen möchten, dass er absolut wahr ist,
damit sie sich nicht eingestehen müssen,
dass in ihnen der Irrtum wohnen könnte.
Gerne möchte ich Dich nach Deiner Sicht dazu befragen,
doch nun empfehle ich Dir, Dich auf den Rückweg zu machen,
denn schon sehr bald wird es dunkel sein."
Jan bedankte sich herzlich, gab ihr den ausgetrunkenen Becher zurück, den sie neben ihren stellte
und machte sich unverzüglich auf den Weg.
Nachdenklich blickte er noch einmal zurück und dachte bei sich: “Ist es tatsächlich so ?”.
Dann drehte er sich um und beschleunigte seine Schritte um rechtzeitig vor der Dunkelheit im Tal zu sein.
Er nahm sich vor, seinen Freunden von dieser Begegnung erzählen und er war sich sicher,
dass sie schon bald den Streit vergessen haben werden.
Gedankenverloren kraulte Tina ihrem Hund das Ohr und schaute Jan nach,
bis er hinter der Wegbiegung verschwand.
*
Die Wahrheit
Die Wahrheit sah tief in seine Augen.
Er wandte sich denen zu, die seine Worte aufsaugen:
“Schaut mich an, ich kann die Lüge seh’n !”
Die Wahrheit sprach: “Die, die die Wahrheit oft verdreh’n,
lassen Übles schnell entsteh’n !
Verführerisch verlogen, das bist Du
und die Dummen hören zu !”
Die Wahrheit sah tief in ihr Gesicht.
Sie senkte ihren Blick und sprach zu ihr:
“Du in Deiner Gier,
nur Dir selbst gefällst !
Meine Wahrheit, meine Geschicht !
Du Dich am besten an die Deine hältst !”
Die Wahrheit antwortete zu ihrer Sicht:
“Du bist es, die mit der Wahrheit bricht,
denn Du belügst nicht nur andere,
sondern auch Dich selbst !”
Die Wahrheit sah sich selbst,
in eines Kindes Blick
Es lächelte sie an und sprach:
“Was für ein toller Trick !
Oberflächlich und leichtgläubig nennt man mich !
Doch bin ich für Dich,
liebe Wahrheit,
zu dieser Zeit,
nun bereit !”
Die Wahrheit sprach zu ihm ganz leise:
“Wenn Du im stillen Kreise,
Dich von der Sucht nach Anerkennung trennst
und des “oberflächlichen Leichtglaubens” tiefsten Sinn erkennst,
dann findest Du nicht nur eine Weisheit,
sondern bist auf Deiner Lebensreise,
auch noch weise
und gescheit !”
© jogdragoon
Bibat ex me qui potest