Zu viel des Guten

Ein Gedicht von Michael Jörchel
Vor langer Zeit lebte in einem kleinen Dorf eine alte, weise Frau. Niemand wusste woher sie kam und niemand kannte ihre Geschichte.
Eigentlich war sie schon immer da und schien schon seit Anbeginn so alt gewesen zu sein.

Zu dieser weisen Frau kam eines Tages ein Mann. Er schien verzweifelt und erschöpft zu sein.
Die Frau bat ihn, sich an den Tisch zu setzen und machte ihm einen heißen Tee.

"Trinke erst einmal einen Schluck, entspanne dich und dann erzähle mir was dich bedrückt."

Der Mann tat wie ihm geheißen wurde und begann zu erzählen.

"Ich weiß nicht mehr weiter. Ich bin verzweifelt und erschöpft. Alles was ich anpacke geht schief, dabei versuche ich doch nur zu helfen und es jedem Recht zu machen. Aber irgendwie endet alles im Chaos. Irgendwie scheint mir nichts mehr richtig zu gelingen und ich schaffe es nicht, etwas gut zu Ende zu bringen.
Egal ob ich meinem Nachbarn auf dem Feld helfe, danach meiner Schwester beim Ausbau des Hauses oder meinem Bruder beim Hüten seiner Kinder. Immer passiert etwas, das alle Mühe wieder zunichte macht. Ich schaffe es auch nicht einmal mein eigenes Leben zu ordnen weil alle Menschen etwas von mir wollen."

Die Frau rührte ihnen Tee um und begann ihm eine Geschichte zu erzählen.

"Ein Mann suchte in einer Höhle Schutz vor einem Gewitter. Er überquerte einen schmalen, morschen Steg, der über einen reissenden Fluss führte, um zu der Höhle zu gelangen.
Nach einer Weile bemerkte er aus der Tiefe der Höhle ein Glitzern.
Neugierig ging er diesem Glitzern nach und erblickte einen Goldschatz der, durch einen Felsspalt, vom Mondlicht angestrahlt wurde.
Der Mann freute sich über sein Glück und versuchte so viel wie möglich davon mitzunehmen. So füllte er seine Jacken- und Hosentaschen mit Gold und Edelsteine.
Als er sich noch einige Geldbeutel genommen hat schlug ein gewaltiger Blitz in den Berg ein wodurch die Höhle drohte einzustürzen.
Schnell flüchtete er aus der Höhle aber durch das Gewicht des Goldschatzes kam er nur langsam voran. Auf dem Weg nach draussen rissen ihm einige der alten Goldsäcke. Er überlegte, ob er das Gold noch aufsammeln sollte aber er hatte Angst, von den einstürzenden Felsen erschlagen zu werden und so rannte er hinaus ins Freie.
Als er über den morschen Steg lief brach dieser, durch das Gewicht des Mannes und des Schatzes, entzwei und er stürzte ins Wasser.
Um an Land schwimmen zu können musste er die restlichen Goldsäcke, die er noch in den Händen hielt, loslassen. Aber auch das reichte nicht.
Die Hose, die er mit Gold und Edelsteine gefüllt hat war so schwer, dass sie ihn auf den Grund des Flusses zog.
Schweren Herzens aber aus Angst vor dem Ertrinken zog er seine Hose aus und rettete sich an Land.
Am Ende blieben ihm noch einige Silbermünzen, die er in eine kleine Jackentasche verstaut hat.
Dieses Geld legte er in ein eigenes Geschäft an, das ihm letztendlich zu einem kleinen Wohlstand verholfen hat."

"Was ich dir damit sagen will." Endete die alte Frau."
"Kümmer dich um das, was du in dem Moment tragen aber auch ertragen kannst. Alles Andere, auch wenn es dir noch so wertvoll erscheint wird dich ausbremsen oder sogar herunterziehen.
Du kannst nicht alles gleichzeitig ganz fest halten, denn während du versuchst alles zu behalten wird dir auch vieles entgleiten, dass wirklich für dich wichtig ist.

Die Weisheit ist, zu unterscheiden was auf die Dauer wichtig und was nur ein vorübergehender Glanz ist.
Du musst es nicht allen Recht machen und auch nicht für alle da sein wenn es auf Kosten deines Wohlergehens ist.

Denn nur wenn es dir selber gut geht dann kannst du auch dafür sorgen, dass es anderen auch gut geht."

© Michael Jörchel

Informationen zum Gedicht: Zu viel des Guten

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22.12.2021
Das Gedicht darf unter Angabe des Autoren (Michael Jörchel) für private Zwecke frei verwendet werden. Hier kommerzielle Anfrage stellen.
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