Weihnachten damals
Ein Gedicht von
Marcel Strömer
Weihnachten war eine Zeit der Überforderung.
Wir sangen quälend lange Lieder, Strophe um Strophe, die Stimmen müde, die Lippen trocken, der Atem schwer von Erwartung. Die Geschenke fielen klein aus, fast beschämt lagen sie unter dem Baum, und doch war die Freude groß – selbst über einen bereits getragenen Pullover, der noch nach einem anderen Leben roch. Vielleicht lernten wir früh, dass Dankbarkeit nicht aus Fülle wächst, sondern aus Mangel.
In der Kirche spielten wir das Krippenspiel. Ein Ritual, so alt wie die Gemeinde selbst, getragen von Kerzenlicht, Weihrauch und der strengen Ordnung unserer Väter. Ich war der älteste Hirte. Meine Rolle, meine große Szene, bestand aus einem einzigen Satz:
„ Ich bin Ruben und bin alt.“
Die Gemeinde lachte schallend. Ein befreiendes, unerwartetes Lachen, denn ich war der Jüngste von allen. Für einen Moment kippte die Hierarchie, und die Wahrheit des Spiels offenbarte sich als das, was sie immer war: ein Spiegel.
Wir sahen die kleinen Mädchen, die endlich einmal Engelchen spielen durften – weiß gekleidet, mit schiefen Heiligenscheinen, entrückt und stolz. Der Himmel war ihnen für einen Abend erlaubt. Unser Vater probte das Spiel mit uns, streng, unerbittlich, und doch liebten wir es. Liebe, die durch Disziplin ging, durch Wiederholung, durch das harte Formen der Stimmen. Wir mussten singen und dabei die Münder weit öffnen – als Zeichen bedingungsloser Hingabe. Gehorsam wurde zur Geste, zur Körperhaltung. Und ja, auch Backpfeifen gehörten zur Weihnachtszeit, so selbstverständlich wie Kerzen und Tannenduft. Schmerz und Fest lagen nah beieinander, untrennbar.
Draußen fiel Schnee. Nacht für Nacht. Unter der Straßenlaterne tanzten die Flocken wie stumme Gebete. Ich hörte die Nachbarskinder im Schnee Fußball spielen, ihre Rufe, ihr Lachen, das dumpfe Geräusch des Balls. Mein Herz schlug höher. So gern wäre ich dabei gewesen. Doch um Punkt 20:15 lagen wir brav im Bett, geschniegelt, gezähmt, die Decke bis zum Kinn gezogen, während draußen die Freiheit knirschte.
Ich wunderte mich über das Christuskind in der Krippe. Eine kleine Spielpuppe. Zart, reglos, fast kitschig. Geboren im Stall von Bethlehem, Josef und Maria an seiner Seite – Armut als Kulisse, Erhabenheit als Versprechen. Ein Himmel voller Engel, Geschenke aus dem Morgenland, drei Könige, Gold, Weihrauch und Myrrhe. Ein Märchen von biblischer Ernsthaftigkeit, so schön erzählt, dass man das Ende vergisst. Denn dieses Märchen endet brutal, am Kreuz. Die Lichtgestalt wird zum Märtyrer, die Hoffnung genagelt, der Körper geopfert.
Vielleicht spiegelte sich meine Kinderseele schon damals in dieser Geschichte. In der Gleichzeitigkeit von Freude und Schmerz, von Liebe und Strenge, von Geburt und Tod. Wo Wärme ist, findet auch die Kälte ihren Weg. Wo Nähe lebt, sucht sich der Verlust Zutritt. Weihnachten lehrte mich nicht nur das Staunen, sondern auch die Tragik: dass selbst das Heiligste nicht vor Leid geschützt ist.
Will nicht jeder ein Zuhause?
Einen Ort, an dem man gesehen wird, ohne eine Rolle spielen zu müssen.
Einen Ort, an dem man singen darf, ohne den Mund aufzureißen vor Gehorsam.
Einen Ort, an dem das Herz höher schlagen darf – auch nach 20:15.
Vielleicht war das die eigentliche Botschaft der Krippe:
Nicht der Glanz. Nicht das Opfer.
Sondern die leise, verzweifelte Hoffnung, dass Liebe trotz allem bleibt.
© Marcel Strömer
[Magdeburg, 19.12.2025]
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