Ballade der letzten Silvesternacht

Ein Gedicht von Tilly Boesche-Zacharow
Die am Tag so lauten Straßen
träumen nachts, sind still und leer;
fangen sich, entlehnt den Massen
vom Schatten des Alltags-Verkehr.

Und der Mond kippt um die Schale,
Milch fließt aus sehr hohen Sphär´n.
Katz und Mäusen tropft´s zum Mahle.
Tages Streit liegt weit und fern.

Alter Mann hinter den Scheiben,
ihn flieht Schlaf, noch hat er Zeit.
Die Gedanken, die ihn treiben,
reichen in Vergangenheit.

Feuer fiel vom hohen Himmel,
und es krachte weit und breit.
Damals lacht´ drob kleiner Lümmel,
begriff gar nicht, was Mutter schreit.

Was war mit ihr denn bloß geschehen
in jenen lauten grellen Stunden?
Die Mutter konnt er nie mehr sehen,
er hat sie niemals mehr gefunden.

Man sagte ihm, sie gäbs nicht mehr.
Bomben hätten sie getötet!
Von da an war sein Leben schwer,
sein Himmel blieb stets blutgerötet.

Nur eine Nacht scheint schmerzgemindert,
Silvesternacht mit ihrem Krachen!
Selbst wenn es seine Angst nicht lindert,
er hört der Mutter sanftes Lachen.

Zusammenfließt, was mal zerbrochen.
Heut Silvester, damals Krieg.
Erinnerung kommt angekrochen,
dieweil ein Schrei zum Himmel stieg.

Wenn Böllerschußwerk jubelnd kracht,
Sehe ich an jenem Fenster
immer zur Letztjahresnacht
den alten Mann und die Gespenster…

Und laut bejubeln heut viel Knaben
mit Gelächter und Geschrei,
warum die Alten sich so haben.
Was ist an lautem Spaß dabei?

D e r darf uns nicht die Freud verderben!
Er glaubt nicht an des Friedens Macht.
Wie sollt´ er auch, sah Mutter sterben
und hielt´s nur für Silvesternacht...

Ich will behutsam mit ihm reden,
nachdem ich neben ihn getreten.
Sein Schicksal bracht ihm schwere Schäden
Nun wollen wir gemeinsam beten.

Er schaut mich an , schiebt mich zur Ecke:
„Denk nur nicht, dass ich´s nicht bieg.
„Mama, schnell, - ich dich verstecke .
Wir haben und wir feiern Krieg!“

Da schießt´s in sonst so dunkler Gasse
hell wie Scheiterhaufen auf.
Und - es stürzt auf mich als Masse,
und ich hör´s als letzten Schnauf:

„Meine Mutter muss ich schützen,
damals konnt ich´s nicht, doch jetzt...“
In des Feuerwerkes Blitzen
seh ich in blut´gem Morgenrot
den alten Mann, und er ist tot...

Ich selbst blieb völlig unverletzt!

11.12.12-Bln

Informationen zum Gedicht: Ballade der letzten Silvesternacht

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11.12.2012
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