In der Straßenbahn

Ein Gedicht von Wolf-Rüdiger Guthmann
Als Kind war er mein großer Traum,
wenn ich wartete hinter dem Baum,
dass er endlich den Anlauf nahm
und um unsere scharfe Ecke kam.

Bei uns war nämlich die Endstation
für den elektrischen Straßenbahnwaggon.
Die Gleise waren hier zu Ende
und alles nahm so eine Wende.

Das schwere Kreischen hier ein Ende fand
und rumpelnd das Gefährt dann stand.
Stets blieb ich am Wegrand stehen,
um das Wunder zu besehen.

Denn was meine Augen damals sah n
war die modernste Straßenbahn.
Leider sah ich sie nur von außen,
denn ohne Fahrschein blieb man draußen.

Wir wohnten im Schwarzen Weg am Ende,
die andere Endstation war das Fabrikgelände.
Wer gesund und immer gut zu Fuß,
lief die Strecke stets bis zum Schluss.

Doch eines Abends kam die frohe Kunde,
für mich schlägt morgens die große Stunde.
Tante Minna hat‘s am Bein
und muss zum Orthopäden Stein.

Sie will es mit Krücken wagen
und ich soll ihre Tasche tragen.
Drei Stationen Straßenbahn fahren
würden mir Geheimnisse offenbaren.

Denn ich hatte viele Fragen
und keiner konnte die Antwort sagen.
Was der Mann mit der Kurbel macht
und warum es manchmal kracht.

Die Gelddruckmaschine am Schaffnerbauch
hätte ich am liebsten auch.
Man drückt einen Hebel runter
und schon klimpert ‘s Geld ganz munter.

Und dann erst die Uniform ,
wie ein Polizist, enorm.
Dazu die Taschenuhr mit Kette,
die ich auch so gerne hätte.

Am nächsten Tag die Tante kam
und ich gleich ihre Tasche nahm.
Wer hatte mich nur dazu berufen,
denn die Bahn hatte drei hohe Stufen.

Endlich stand ich im Perron
und öffnete die Tür zum Salon.
Doch da nicht Stühle oder Sessel standen,
sondern sich polierte Holzbänke befanden.

Wir hatten Glück, konnten uns setzen,
den Hintern an der Holzbank wetzen.
Sitzend sah man zurück oder voraus,
die Tür schlug zu, das Licht ging aus,

die Schaffnerin kam, zog an der Lederschnur,
es klingelte, und es ruckte nicht nur,
die Bahn kreischte und bewegte sich dann,
immer schneller an Tempo gewann.

Tante Minna hatte ganz besonnen
für uns Reiseproviant mitgenommen.
Statt im Salon mich umzusehen,
musste ich nun belegte Brote drehen.

Es rumpelte und knallte,
und zwischen hohen Häusern schallte.
Der Fahrer zog die Bremse an
und es schwankten Frau und Mann.

Die Brote waren noch nicht davon,
da nahte schon die erste Station.
Die Schaffnerin rief „Gewerkschaftshaus!“
Doch hier wollte niemand raus.

Es stieg dazu ein breiter Wicht,
der nahm mir glatt die Seitensicht.
Ich konnte schnell die Tasche schließen,
denn Tante wollt noch Bier genießen.

Keiner sprach, die Welt war stumm,
da sah ich mich in Ruhe um.
Wie vom Onkel und der Tante gewollt,
war der Witwenring wie alles aus Gold.

Griffe, Schrauben, Haken, alle Ösen,
die etwas halten oder auch Lösen,
oder in der Tür die kleinen Schieber
glänzten in meines Goldes Fieber.

Die Schaffnerin, auch uniformiert,
hat uns den Fahrschein präsentiert,
gab uns klimpernd Kleingeld raus
und ging zum Fahrer dann hinaus.

Ich hörte, sah und roch die Fahrt,
jeden Halt und jeden Start.
Draußen sah ich Häuser fliegen
bis wir dann am Ziel ausstiegen.

Die Schaffnerin bot uns die Hand,
die Stufen gaben wenig Stand.
Kaum waren wir von der Straße runter,
da wurde die Bahn wieder munter.

Die kleinen Räder flitzten
und die Stromabnehmer blitzten.
Das Rattern wurde leiser empfunden
und bald war es ganz verschwunden.

Dafür ward die Rückfahrt schön,
denn da durfte ich vorne steh ’n.
„Aber nur wenn du dich fest hältst,
damit du nicht aus dem Nest fällst.“

Und ich hielt mich krampfhaft fest,
denn bald schon gab’s den ersten Test,
ein Hund lief schnuppernd auf der Trasse
und ich schrie laut, weil ich’s nicht fasse.

Der Fahrer klingelte und drehte wie toll,
bis die Bremse stotternd erscholl.
Der Hund verschwand in einem Haus,
der Fahrer drohte zur Tür hinaus.

Er kurbelte nun Schritt für Schritt
und die Bahn ruckte leicht mit.
Mal nach rechts und dann nach links,
Hauptsache, der Bahn gelingt ‘s.

Es knackte, funkte und ozonreich roch
Und trotzdem fuhr sie immer noch.
„Jeder Schritt sind noch mehr Volt,
damit der Motor besser rollt.

Und ein Mann hat klug erkannt,
beim Bremsen braucht die Schiene Sand.
Das Eisen soll dadurch nicht glänzen,
nur das Tempo schneller schwänzen.“


Die Bahn sollte nach links abzweigen,
da musste die Schaffnerin aussteigen.
Sie nahm am Griff die schwere Stange
und hebelte an der Weiche nicht lange.

Die Bahn fuhr drüber und blieb steh‘n,
die Weiche musste nun rückwärtsgehen.
Hebel ran und kurz mal biegen,
schon ist sie wieder eingestiegen.

Zwei Mal Halten, drei Mal Anfahrspiel
und schon waren wir leider am Ziel.
„Endstation!“ der Fahrer nicht vergaß
und an seiner Uhr die Zeit ablas.

In einer anderen Uniformtasche steckte
ein Stift, an dem er mit der Zunge leckte
und ein Heftchen mit sauberer Schrift,
das bestimmt die Bahn betrifft.
Was er schrieb, konnt ich nicht lesen,
doch war s bestimmt wichtig gewesen.

Die Schaffnerin rief „Alles aussteigen!“
und begann den Türtauschreigen.
Sie drehte Hebel dicht am Rand
und hielt die untere Platte in der Hand.

Damit ward der Einstieg verschlossen,
der bisher frische Luft genossen.
Das gleiche geschah mit dem Oberteil,
sodass eine Tür offen, die andere heil.

Dann riss sie hoch oben den Kasten auf
und drehte das Schild mit dem Zielverlauf.
Der Fahrer nahm seine Kurbel schon
und lief damit zum anderen Perron.

Die Schaffnerin folgte mit gleichem Ziel
und wiederholte dort ihr gleiches Spiel.
Ich stand im Eck und sah beiden zu,
doch dann war Schluss mit meiner Ruh.

„Na, mein Kleiner, deine Tante wartet
und die Bahn gleich wieder startet.
Steige jetzt endlich vorsichtig aus
und bring die Tante gut nach Haus.“

Ich dankte und hatte genug gesehen,
das musste ich erst einmal verstehen.
Hoffentlich fährt die Bahn noch her und hin,
wenn ich im Azubialter bin.

01.06.2016 © Wolf-Rüdiger Guthmann

Informationen zum Gedicht: In der Straßenbahn

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01.06.2016
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