Ich warte

Ein Gedicht von Wolf-Rüdiger Guthmann
Ich sah dich schon aus der Ferne,
denn ich wollte ins Kino gerne.
Du bliebst auf dem Gehweg stehen,
statt endlich hinein zu gehen.
Beim Rauchen sprach ich dich an
und unsere Liebelei begann.

Ich kaufte Chips und Schokolade,
später noch Eis und Limonade.
Wir saßen in der letzten Reihe,
wo Hirsche wetzen die Geweihe.
Nur dein Arm sich sehr beeilte,
weil er die Mittellehne mit mir teilte.

Er teilte mit mir Freud und Leid,
der Film ging unwahrscheinlich weit.
Rauchen, Trinken, harte Dröhnung,
Küsse, Schläge und auch Versöhnung.
Liebe in vielen Betten und Varianten,
mit fremden, aber auch Bekannten.

Flüstern, Kichern, lautes Stöhnen,
selbst das Radio ließ man übertönen.
Erst lange Szenen, dann ganz flott,
mal ging‘s hüh und dann wieder hott.
Sie fieberte mit, mit ganzer Macht,
wollte viel sehen von Tag und Nacht.

Sie aß und trank und zeigte Gefühle,
von Freude bis Angst in dem Gestühle.
Ihre Finger, lackiert und fein gepflegt,
hatte sie auf meinen Arm gelegt.
Ohne auf die Leinwand zu sehen,
erriet ich, was im Film geschehen.

Egal, welche Szene gerade aktuell,
ihre Finger dokumentierten es schnell.
Sie drückten oder strichen meinen Arm,
bis mir Schauer liefen, kalt oder warm.
Sie trommelten oft sehr ungeduldig,
oder verkrampften, wenn Angeklagte unschuldig.

Ihre Hand sich schon mal zur Faust ballte
oder ängstlich in meinen Handrücken krallte.
Im Film wurde ein Gottesdienst gestaltet
und auch meine Hand zum Gebet gefaltet.
Ihr Kopf wendete einmal vor Filmverdruss,
da gab ich ihr einfach einen Doppel Kuss.

Der Film war zu Ende, wir standen auf,
ich wollte sie küssen vor dem Reihenlauf.
Sie wehrte ab: „Geschenkt ist geschenkt!“
Ich habe ihren Blick auf Programme gelenkt.
„Und gewaltsam zurückholen ist gestohlen!“
Da ging ich meine Garderobe holen.

Den Mantel angezogen, Gürtel gebunden,
endlich umgedreht, sie war verschwunden.
Wo ich auch suchte, sie war nicht mehr da.
Entweder Taxe oder sie wohnte ganz nah.
Ich lief im Viertel auf und nieder,
doch ich sah sie niemals wieder.

Sehnsucht treibt mich Tag und Nacht.
Was hat sie nur mit mir gemacht?
Allein ist der schönste Film nur Zelluloid,
ich erwarte das echte Leben, hier und heut.
Wer mich nicht kennt, dem werd ich verraten,
ich trage in einer Hand zwei Karten.

12.01.2017 © W.R.Guthmann

Informationen zum Gedicht: Ich warte

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12.01.2017
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