Die Pflicht ruft

Ein Gedicht von Wolf-Rüdiger Guthmann
Es gibt da einen Opapa,
der täglich ist dem Fenster nah.
So fing bisher kein Märchen an,
drum erzähl ich Euch von diesem Mann.
Jeden Tag zur selben Zeit
macht er sich am Fenster breit.
Erst steht er wie ein Polizist,
der die Straße streng vermisst.
Aufrecht, jede Faust geballt,
steht er sicher ohne Halt.
Doch wie zum Gruß neigt er sich nett
und stützt sich auf das Fensterbrett.
Dort liegt ein Kissen schon bereit,
das Holz drückt nämlich mit der Zeit.
Doch schon bald muss er sich setzen,
den Hintern auf dem Sessel wetzen.
Nur seine Augen sind hellwach,
trotz Sonne, Hitze, Straßenkrach.
Sie halten schon seit vielen Jahren
Ausschau nach dem, der weggefahren.
Das war sein Sohn, der eingezogen
und gen Russland ward geflogen.
Als es einst zum Abschied blies
und er schnell das Haus verließ,
winkte er solang man’s sah,
denn alles war den Tränen nah.
Allerdings ist’s lange her,
und es lebt kaum einer mehr.
Den jungen Mann hat’s schnell erwischt,
dort wo im Krieg der Schrott rumzischt.
Am zweiten Tag war’s schon passiert,
obwohl er stets mit Helm spaziert.
Von der Granate ein Stück Stahl
bohrte sich mit einem Mal
durch den Helm und seinen Schopf
tödlich reißend in den Kopf.
Die Kameraden eilten auf die Schnelle
Hilfe bringend zu der Stelle.
Doch sie konnten es kaum fassen,
besser war’s, den Helm zu lassen.
Sie knickten die Marke an den Laschen
und entleerten seine Taschen.
Alles wurde gut verschnürt
und nach Hause adressiert.
Dann wickelten sie ihn in eine Decke
und begruben ihn hinter einer Mauerecke.
Der Melder, der die Post mitnahm,
später selbst ums Leben kam.
Briefe, Päckchen, Karten, Feldpost
fetzte es nach West und Ost.
Darum kam niemals ein Bescheid,
der amtlich macht Familienleid.
Die Hoffnung war ein letzter Keim,
als die Kriegsgefangenen kehrten heim.
Da erfuhren sie von Kameraden
was in Russland schon widerfahren.
Der Gräberdienst ward angeschrieben
und zum Umbetten angetrieben.
Doch ihres Sohnes letzte Reste
die für sie das allerbeste,
und die sie gern im Dorf hier hätten,
kamen auf eine der Kriegsgräberstätten.
Tausende Soldaten aus vielen Ländern
wollten einst die Welt verändern,
wollten aller Welt beweisen,
Siege gibt es nur durch Eisen.
Eisen, das rund angespitzt,
kraftvoll durch den Lauf entflitzt.
Die meisten hat es selbst getroffen
und der Sieg blieb trotzdem offen.
Auch wenn eine Siegerfahne gehisst,
viel zu viele wurden vermisst.
Der alte Mann steht jeden Tag,
selbst als seine Frau im Hospital lag.
Das ist inzwischen schon Jahre her,
doch sein Fensterplatz bleibt nimmer leer.
Verwandte haben ihn nicht vergessen
und bringen ihm täglich sein Essen.
Und jeden Tag zur gleichen Zeit
ist er zu seinem Spruch bereit:
„Meinen Sohn vergess ich nicht,
auf ihn zu warten ist meine Pflicht.“

20.06.2014 © Wolf-Rüdiger Guthmann

Informationen zum Gedicht: Die Pflicht ruft

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21.07.2014
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