Ballade von der dunklen Chaussee

Ein Gedicht von Annelie Kelch
...sich gegenseitig nach Hause bringen:
ein Anfang mit Ende!

Wir hatten Steno, Abendunterricht.
Als wir den Klassenraum verließen,
war 's draußen fast noch sommerhell.

Wir brachten uns mal wieder gegenseitig heim,
nach ein, zwei Stunde lag die Stadt
bereits im Abendlichterschein,
wir brauchten lange, lange. Und als ich endlich
meinen Heimweg antrat ganz allein,
lag schon ein tiefes Dunkel überm Saum
der alten Deichchaussee „Am Neuendeich“,
man sah die Hand vor Augen kaum.

Die paar Laternen warfen wenig Licht,
die Schatten von den Bäumen: gruselig,
kein Mond am Himmel kaum ein Stern,
das Haus, darin ich wohnte, lag noch fern.

Ich sang aus voller Kehle
das Lied von Lily Marleen(e),
die unter der Laterne stand
und ihren Schatten suchte,
Schatten, den ich verfluchte,
lag auf dem Bürgersteig am Graben.

Die Häuser mir zur Rechten waren dunkel,
ein kleiner Wind sorgte für mystisches Gemunkel
im Laub. Dann kam der große Wasserturm,
daneben fühlte man sich eh' schon wie ein Wurm.
Die Efeublätter rauschten leise,
tauschten Gedanken aus auf ihre Weise.

Vorm Schwarzen Weg sah man die Hand
vor Augen nicht und ich sah zu, dass ich an
diesem dunklen Loch vorbeikam.
Die Straße vor mir: menschenleer,
kein einz'ges Licht im Häusermeer,
ich schaute mich nicht um.

Da schnurrte plötzlich, wie von Geisterhand
dorthin verbracht, ein Wagen neben mir,
bemannt mit einem Typen,
den ich nie zuvor gesehen (oder doch?),
und ich begann zu rennen
und innerlich zu flennen.

Ich konnte bald nicht mehr, war mächtig aus
der Puste. Der Kerl fuhr weiter neben mir;
ich drosselte das Tempo und blieb stehn.
Er auch, ich wollte schrein: Komm raus,
du Feigling, zeige dein Gesicht mir
unter dem Laternenlicht und ballte meine Hände
innerlich zu wenig imposanten Fäusten.

Wenn der tatsächlich aussteigt,
kam mir in den Sinn,
dann wird der merken, dass ich schneller bin,
dann steh ich längst vor dem Kasino,
schlag 'ne Scheibe ein, geht schneller,
als erst nett und brav zu klingeln.
Schließlich bin ich in großer Not,
der kidnappt mich und haut mich tot.

Ach, Uschi, warum hast du mich verlassen,
statt mich noch einmal heimzubringen.
Hier ist ein Kerl, der hat nicht alle Tassen
mehr im Schrank, mir wird so kalt, mir
ist so bang, als sei ich längst gestorben,
mein Magen schmerzt, als hätt' ich ihn
mir gerade erst verdorgen.
Ich will nach Haus!

Weshalb sind Steffens heut' so früh
zu Bett gegangen, Frau Gödeke schläft
gewiss auch schon fest, dass sie noch wach sei
war der letzter Rest von meiner Hoffnung.
Weshalb, zum Teufel, kann man nicht verlangen,
dass einer wachbleibt, eh' es Zwölfe schlägt?
Und so ging 's weiter:
Ich lief – er fuhr,
ich blieb ganz einfach stehn – er bremste,
drauf lief ich weiter, hetzte, keuchte
und was mich zart umfleuchte,
um plötzlich hinterhältig zuzustechen: Mücken, Wespen,
anderes Getier, das unter den Laternen
kreuchte, stob auseinander,
der hat nicht alle beieinander,
dachte ich, ein junges Mädchen,
fast ein Kind noch, derart zu erschrecken.
Mit Necken hat das längst nichts mehr
zu tun.
Ich war perdu und wollte nichts als schlafen,
daheim, in meinem sicheren Hafen.
Die Auffahrt – endlich, Gott sei Dank!
Ich glaubte fast, ich träumte,
dann sah ich die Kastanie - säumte
das große alte Haus wie immer;
sie schlief und rauschte nimmer.

Ich rannte, nein, ich sauste um den Kastanienbaum,
- mir war, als ob ich träumte - wie im Traum -
und um drei Ecken, der Kerl fuhr langsam weiter.
Wollt' der mich uzen und/oder erschrecken,
in „guter Absicht“ anonym nach Haus' begleiten?
Wer weiß mehr -?

„Wo kommst du her?!
Um diese Zeit?“
Papachen sah mich wütend an und
nahm die Lesebrille ab.
Ich dachte: Mist, dass ich kein Alibi heut' hab';
denn Uschi war ja längst zu Hause,
wohin ich sie gebracht und schlief gewiss
schon fest am anderen Ende unserer Stadt.

Ja, es war „nur“ die Uschi, Dad, kein Loverboy;
wir haben weiter nichts getan
als uns mal wieder stundenlang zu unterhalten
über den Stenounterricht, die Zukunft, Bücher etc.
Seit wann ist das verboten?
Werd ja nicht frech, mein Fräulein!
Darum ließ ich 's sein,
von meinem Abenteuer zu berichten,
und dass ich hätte tot sein können jetzt.
Das interessierte eh' kein Schwein -
ich war ja eh' immer allein
mit meinen Schmerzgedanken.

Und obendrein kommt mir beim
Schreiben und beim Dichten
der ganze Kram mal wieder hoch:

die alten, die dummen Geschichten.

Informationen zum Gedicht: Ballade von der dunklen Chaussee

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-
03.12.2016
Das Gedicht darf weder kopiert noch veröffentlicht werden.
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