Grimms Märchenstunde

Ein Gedicht von Michael Adamitzki
Die Stiefmutter, die steht im Mieder
vorm Spiegel, dem ist das zuwider.
“Sie macht bestimmt ein groß Geschrei
und frägt, ob sie die Schönste sei.“

Da hört er schon: “Hey Glasgestell,
bin doch die allerschönste, gell!
Ich stehe da im kurzen Kleid,
mit einem Ausschnitt, der ist weit.

Nur schwach bedeckt von meiner Blusen,
das sind die großen Pampelmusen.
Wenn du mich wählst, verlass dich drauf,
mach ich das oberst Knöpfchen auf.

Der Spiegel, der ist ungezogen,
er lacht, dass sich die Balken bogen:
“Nein, diesmal ist es nicht Schneewittchen,
schon gar nicht du, du altes Flittchen.

Rotkäppchen ist’s im dunklen Wald.“
Es schmerzvoll in den Ohren schallt.
“Vor dir da kommt auch noch Dornröschen,
schaut lecker aus im Lederhöschen.

Und auch die Hex‘ vom Knusperhaus,
die sieht noch dreimal besser aus.
Nicht mal, wenn du wärst splitternackt,
häst du den ersten Platz gepackt.

Da war die Alte aber sauer,
und ihre Stimme klang jetzt rauher:
“Nun geh ich in den Märchenwald,
das rote Käppchen mach ich kalt.

Dann nehm die andern ich zur Brust,
in ihren Augen Todeslust.
So stiefelt sie mit großen Schritten,
zum Häuschen auf der Lichtung Mitten.

Ich glaub, die Frau wird niemals nett,
sie geht ins Zimmer, drin ein Bett.
Dort wartet hungrig Isegrim.
Ich frage euch: “Ist das sehr schlimm?“

Informationen zum Gedicht: Grimms Märchenstunde

1.306 mal gelesen
(2 Personen haben das Gedicht bewertet. Der Durchschnitt beträgt 4,0 von 5 Sternen)
1
31.01.2012
Das Gedicht darf nur mit einer Erlaubnis des Autoren kopiert oder veröffentlicht werden. Jetzt Anfrage stellen.
Anzeige