Der Esel und der Tausendfüßer

Ein Gedicht von Heinz Säring
Der Müller war fromm und die Mühle war zu,
sein Esel - am Sonntag, da hatte er Ruh.
Der sah auf dem Boden , - und war sehr gerührt -
'nen Vielfüßer, der durch die Gegend spaziert.

Das Tier hatte auf einer Seite alleine,
nun sagen wir mal, an die 300 Beine.
Wir wollen uns heute am Sonntag nicht quälen,
der Esel, der konnt' sowieso nicht weit zählen.

Er war ganz beeindruckt und konnte nur raunen:
"Sie sind gut zu Fuß und ich bin am Erstaunen.
Muss sagen, mir kann das total imponieren,
wie Sie elegant durch die Gegend spazieren,

die ganze Bewegung so koordinieren
und all Ihre Beine so gut kontrollieren!
Dass die und die Füße den Boden bedecken,
die zweiten sich heben, die dritten sich strecken!

Ich muss mich bemühen, - leicht kommt man ins Holpern -
nicht über die eig'nen 4 Beine zu stolpern!
Ich glaube, da spielt eine ganz große Rolle
die Konzentration, die exakte Kontrolle!

Für meinen Kopf wären das schreckliche Plagen,
ich bin nur geschaffen, um Säcke zu tragen.
Ich habe mit meinen 4 Beinen genug.
Wie sind Sie so überaus weise und klug!"

Der Vielfüßer fragt sich, was ist denn dabei?
Doch hört er vom Großtier schon gern Schmeichelei.
Er hat sich bisher überhaupt nichts gedacht
und alles nur ganz automatisch gemacht.

Denkt jetzt an die Beine, die obern, die untern,
und fängt plötzlich an, sich nun selbst zu bewundern.
Er merkt, es ist schwierig, und gar nicht zum Lachen,
bemüht sich jetzt, alles ganz richtig zu machen.

Dann plötzlich ein Rucken, das bringt ihn zum Stehn!
Er zuckt vor und rückwärts, er kann nicht mehr gehn!
Das Laufen erscheint ihm jetzt so kompliziert, ---
er hat sich nicht mehr von der Stelle gerührt.



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Ein Glück! Die Eule kam geflogen.
Die haben sie hinzugezogen,
und sie berichten ihr ganz klar,
was eben hier geschehen war.

Das ganze schlimme Ungemach!
Die kluge Eule aber sprach:
"Man soll sich nie die Haare raufen
bei Dingen, die von selber laufen."

Sie sagt zu ihm: "Sei still und brav!
Gleich fällst du in Hypnoseschlaf.
Die ganze Dummheit ist vorbei.
Vielfüßler, du bist wieder frei!
- Vertraue nur und sei kein Tor!" -

Nun läuft er wieder - wie zuvor!

Informationen zum Gedicht: Der Esel und der Tausendfüßer

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09.09.2011
Das Gedicht darf weder kopiert noch veröffentlicht werden.
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