Mai

Ein Gedicht von Christoph Hartlieb
.... Ein Glück, April ist bald vorbei.
Willkommen, lieber Monat Mai,
denn Dichterherz und Dichtermund
füll´n sich mit Worten, süß und bunt.
Das Herz ist voll, der Mund läuft über,
der Dichter dichtet wie im Fieber.
Als ob es von alleine dichtet,
so wirbelt auf, was zugeschichtet.
Spontan drängt sich´s ans Licht empor,
ein Lob, ein Dank, ein Musenchor,
mit schier vulkanischen Gewalten,
durch nichts und niemand aufzuhalten.
.... Gesang wird laut in Moll und Dur,
es singt der Mensch, es singt Natur.
Es singt nicht nur, wer singen kann,
auch wer nicht singen kann, fängt an.
So ähnlich, wie bei unsern Ahnen,
Normannen, Wikingern, Germanen,
wenn sie nach grauen Wintertagen
voll Hunger, Enge, Frost und Plagen
die bleiche Haut nun wieder sonnten
und dabei sangen, wie konnten,
noch ungewaschen und verdreckt,
von Kunstverständnis unbeleckt,
meist zur Gewinnung einer Braut,
nicht schön und edel, aber laut.
.... Genau genommen sind zwei Triebe
hier wirksam: Sangeslust und Liebe.
Aus allen Bäumen, Büschen, Hecken,
an allen Rundungen und Ecken,
durch alle Schnäbel, Mäuler, Kehlen,
in allen Herzen, allen Seelen,
im Wasser, in der Luft zu Land,
soweit das Firmament sich spannt,
da blökt es, muht es, kräht es, summt es,
miaut es, wiehert es und brummt es,
da schnattert´s, zwitschert´s, klappert´s, knurrt´s,
girrt´s, quakt´s, quiekt´s, krächzt´s, zirpt´s, pfeift´s und surrt´s,
so wunderschön, so wunderbar,
so kunstvoll und elementar,
dass selbst die größten Komponisten
erblassen und verstummen müssten:
Ein tausendstimmiger Akkord
in Ost und West, in Süd und Nord.
.... Die Liebe ist´s, die Himmelsmacht,
gebündelt und vertausendfacht
in jeder Knospe, jeder Blüte,
in jedem menschlichen Gemüte
entfacht und angespornt vom Streben
nach Leben, Leben, Leben, Leben.
Der Zauberstab des Monats Mai
macht Riesenenergieen frei,
die vorher in verborg´nen Tiefen
untätig warteten und schliefen.
Was immer sich entfalten kann,
fängt jetzt zu blühn und wachsen an,
und all das heftige Geschiebe
entspringt aus Liebe, Liebe, Liebe.
.... Selbst jene, die sonst niemals sangen,
beginnen, damit anzufangen:
Der Bauer fährt auf seinem Trecker
ein Liedchen singend durch die Äcker.
Die Bäuerin, die Forke schwingend,
entfernt den Mist des Kuhstalls singend.
Es singen Mägde, singen Knechte,
getrieben durch geheime Mächte.
Ein Baby, das am Schnuller lutscht,
fühlt sich zum Singen aufgeputscht.
Die Oma singt im Altersheim,
und fröhlich singend schlürft sie Schleim.
Ihr Mann singt in der Badewanne,
denn in ihm singt das Kind im Manne.
.... Auch ich sing mit, wenn alles singt,
weil Dankbarkeit mein Herz durchdringt,
in bunt gemischten Jubelchören.
Wer Ohren hat, der kann es hören.
Es tönt und klingt voll Überschwang
ein unaufhörlicher Gesang,
womit die Lebewesen proben.
gemeinsam ihren Herrn zu loben,
der im Beginn durch seinen Ruf
dies Wunderwerk aus nichts erschuf.
.... O Leser, tu doch auch den Schritt:
Sing einfach mit den andern mit.
Silesio

Informationen zum Gedicht: Mai

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Mai
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01.05.2023
Das Gedicht darf unter Angabe des Autoren (Christoph Hartlieb) für private Zwecke frei verwendet werden. Hier kommerzielle Anfrage stellen.
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