Die Flachländerin (ein Märchen)

Ein Gedicht von Rudolf Fricke
Sie lebt auf einem Rechenblatt,
das ja bekanntlich überall Quadrate hat,
dessen Linien die kleinen Flächen so umzäunen,
dass sie sich darin fühlt wie wir in Räumen.
In diesen lebt sie und träumt
von dreidimensionalen Räumen

Von Zeit zu Zeit
macht sie sich auf zu Abenteuern
und obwohl ihr das nicht ganz geheuer,
schiebt sie sich an den Linien entlang,
ihrem Äusseren entsprechend flach
ihrem Wesen nach mit viel Bedacht
durch dieses winkelige Gelände
in der Hoffnung,dass sie mal jemand fände,
der ihr beklagenswertes Einerlei
durch seine Anwesenheit beende.

Sie träumte oft von Blättern,
die sich über sie erheben,
und auf des Windes Flügeln wiegen,
um irgendwo dann
mit dem Winde zu verwehen.

Es ist nicht so,
dass sie nichts fand,
denn sie entdeckte rein rechnerisch,
der rechte Winkel nicht immer
drin zu finden ist.
In ihrem zweidimensionalen Land
sie nämlich Winkel fand,
denen infolge der gekrümmten Ebene
einige Grad an neunzig fehlen.

Sie freute sich
als Rechenkünstlerin
und stolz als solche
stellt sie fest,
dass nicht alles so ist
wie es scheint
und scheinbar Eindeutiges
nicht selbstverständlich ist.
Dass vieles relativ
stimmte sie hoffnungsfroh.

Dann eines Tages schwebte
ganz unverhofft aus heiterem Himmel
ein Transparentpapier auf sie herab.
Sie konnte zwar nicht sehen,
was sich behutsam auf sie legte
und schweigend auf ihr liegen blieb.
Ihr Glück jedoch war groß,
was sie ganz offensichtlich
auch genoss.

Ein Windhauch nur
beide ab und zu bewegte.
Noch lange sie mit ihm zusammen lebte
und wurde schliesslich ganz in ihm Figur.

Seitdem sah man sie nie mehr suchen......

Informationen zum Gedicht: Die Flachländerin (ein Märchen)

1.096 mal gelesen
(2 Personen haben das Gedicht bewertet. Der Durchschnitt beträgt 4,3 von 5 Sternen)
-
02.03.2015
Das Gedicht darf nur mit einer Erlaubnis des Autoren kopiert oder veröffentlicht werden. Jetzt Anfrage stellen.
Anzeige