Nachtstück doloroso

Ein Gedicht von Annelie Kelch
Nachtstück doloroso

Dann waren sie fort, rüber zu Tante Falkenberg, acht Häuser weiter.
Morgen früh sind wir wieder daheim, hieß es zum Abschied.
... wenn Gott will, dachte er; das sang sie sonst immer, bevor er einschlief.

Er stand auf, tappte ans Fenster, sah hinab ins trübe Laternenlicht:
Unten lag die mausgraue Straße: ein ausgestorbener Saurier.

Abendwind strich durch die Linde vorm Haus. Er stieß das Fenster auf, sog den
Blütenduft ein, jauchzte über die schwankenden Schatten, die auf dem Sims
kamen und gingen. So tanzte sie nachts mit ihm von Zimmer zu Zimmer,
wenn er schlecht geträumt hatte.

Nirgendwo brannte Licht, alles feierten Tante Falkenbergs Hochzeit. Alle!,
nur er nicht. Er war allein.

Der Saurier glänzte unterm Silber des Mondgesichts. 'Carl Blankenburg',
dachte er. - Schau, Carl Blankenburg ist wach und hütet die Sterne,
sagte sie manchmal, bevor sie die Vorhänge schloss.

Er träumte davon, dem Dino die Sporen zu geben, fortzureiten -
zu Oma und Opa nach Wilmersberg. Die blieben nachts daheim.- Immer.

Er tappte in die Küche, griff nach dem Glas mit der Erdbeermilch, trank sich
Mut an, krabbelte auf die Fensterbank ...

Als sie ihn fanden, lag er auf dem Panzer des Sauriers, schlief -
war einfach nicht wachzukriegen.

Informationen zum Gedicht: Nachtstück doloroso

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14.10.2016
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