Vollmondnacht

Ein Gedicht von Lothar Schwalm
Der Vollmond kommt althergebracht mit Bedacht
in der Nacht an die Macht.
Er lacht über den Tag, der nicht mehr mag:
Sein Sieg über die Sonne, das ist mondenklar.
Menschen und Wölfe vereinen sich und heulen gemeinsam
den hell erleuchteten Erdbegleiter an.
Die Magie der Nacht nimmt ihren Lauf.
Abwechselnd sitzen ein Wolf und ein Mensch im Kreis
auf den Steinen eines alten Bergplateaus
und instrumentalisieren ihre urigen Stimmen
mit urigen Lauten zu einer melancholischen Melodie.
Der Mond freut sich über diese Ehrerbietung.
Vollmondnächte sind besondere Nächte:
Menschen zeugen Menschen und
Menschen töten Menschen wie sonst zu keiner Nacht.
Das Leben am Puls kosmischer Gegebenheiten.
Man könnte meinen, der Vollmond enthemmt uns,
verlangt nach Wahrheit und Ehrlichkeit
wie kein zweites Gestirn.
Und er ist uns so nahe wie kein zweites Gestirn –
ein menschlicher Planet sozusagen,
trotz all seiner Unwirtlichkeit.
Aber nicht nur Wölfe und Menschen
heulen in diesen Nächten Rotz und Wasser –
auch andere Tiere flippen aus:
Kecke Mäuse futtern eifrig Katzenzungen
und Schnecken spielen Wettkriechen,
während Dutzende Glühwürmchen die Rennstrecke markieren.
Ein nächtliches Fest tierischer Verrücktheiten:
Heute darf jeder mal, so wie er kann.
Drei Weinbergschnecken gehen gleichzeitig an den Start
im Angesicht der leuchtenden Hinterleiber der Glühwürmchen:
Welche schafft den Meter wohl als erste?
Amalia auf der linken, Egalia auf der mittleren,
oder Eulalia auf der rechten Spur?
Der Brüller eines Brüllaffen gibt das Startsignal
und die drei schleichen los, was der Schleim hält.
Nach etwa drei Minuten schläft Egalia
- gelangweilt von ihrem eigenen Tempo -
bei etwa 40 cm ein und bleibt stehen, oder besser: liegen.
Amalia und Eulalia haben den Sieg praktisch schon
vor den Fühlern, kommen aber auf den Außenbahnen
von ihren Schleimspuren ab und werden disqualifiziert.
Ein siegerloses Schleichen in heller Mondnacht.
Das eigentliche Publikum dieses Rennens, die Glühwürmer,
sind enttäuscht. Vereinzelte Buh-Lichter sind zu sehen.
Nicht nur der Mond scheint voll zu sein –
vielleicht waren es die Schnecken auch.
In Ermangelung eines Sieges sind auch keine Schleimproben nötig.
Die Glühwürmchen haben ausgeglüht für diese Nacht
und legen sich schlafen: Morgen ist auch noch eine Nacht.
Dunkle Wolkenmassen ziehen auf und versperren dem Mond
die Sicht auf dieses Fleckchen Erde.
Für heute Nacht hat er genug gesehen.
Auch die Gemeinschaft aus Menschen und Wölfen
legt sich langsam schlafen,
alle Katzenzungen ruhen in Mäusemägen.
Und während Amalia und Eulalia ihrer Irrwege ziehen,
schläft Egalia den Schlaf der Gerechten
und träumt von einem Zieleinlauf mit einer Fühlerlänge Vorsprung.
Die Glühwürmchen haben sich in die Bäume zurückgezogen
und tanken wieder Energien für ein nächstes nächtliches Leuchtfeuer.
Der Mond schaut nur noch ab und zu aus den Wolken hervor.
Am frühen Morgen besiegelt die Dämmerung
das Schicksal dieser Vollmondnacht…

ls29092012

Informationen zum Gedicht: Vollmondnacht

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30.09.2012
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