Der Baum und ich
Ein Gedicht von
Anita Namer
Gestern
bin ich vor mir selbst davon gelaufen
und irgendwie
hab ich mich nicht eingeholt.
Ich lief – über Wege und Straßen,
doch mein Selbst,
war mir immer ein paar Schritte voraus.
Schließlich
kam ich an einen Wald,
lief an einem Bach vorbei,
viele Blätter lagen auf dem Weg
und plötzlich stand ich
vor einem Baum.
Vor diesem – war wohl auch mein Selbst stehen geblieben,
denn genau da – holte ich es wieder ein.
Wir standen so da und betrachteten ihn
und waren irgendwie
sprachlos,
in Gedanken versunken,
berührt.
Wie lange stand er wohl schon so da?
Was hatte er wohl schon so alles gesehen?
Er konnte nicht davon laufen.
Er stand da.
Was auch immer kommen würde,
erwartete er wohl – in seinem Da-sein.
Seine Wurzeln – waren weitreichend,
und wenn sich ihnen ein Hindernis stellte,
wuchsen sie einfach – darum herum.
Seine Äste – reichten weit in den Himmel.
Bei ihm - hatte wohl – das Licht eine große Rolle gespielt.
Alle seine Äste – richteten sich danach aus.
Und wenn er auch nicht aussah – wie die restlichen Bäume,
mit ihren weit reichenden Kronen nach allen Seiten,
so hatte er doch – eine immense Ausstrahlung.
Er stand da – als das, was er war.
Ein wenig seltsam anzusehen,
hatte wohl schon vielen Jahreszeiten,
Stürmen, Wind und Wetter getrotzt,
nahm seinen Platz ein,
erfüllte ihn,
so gut er konnte,
mit seinem Sein.
Wir standen so einige Zeit vor ihm,
mein Selbst – und ich
und irgendwie
in dieser Betrachtung
gab es nichts mehr
um davon zu laufen.
Es gab nur – das Sein
meiner Selbst.
© A. Namer 10/2013