Lebensträume

Ein Gedicht von Wolf-Rüdiger Guthmann
Mein Nachbar ist ein kluger Mann,
der vieles weiß und vieles kann.
Als er die Schule einst beendet,
hat er zum Handwerk sich gewendet.
Er wollte nicht nur Häuser schauen,
er wollte sie auch selber bauen.
Und er könnte den Frauen und Zicken
pfeifend in den Ausschnitt blicken.

Und so stieg er mit Kelle und Stein
In eine Maurerlehre ein.
Er lernte gut und lernte lange,
bei solchem Nachwuchs ist nicht bange.
Kaum war er dann Geselle,
warb ihn ein Maurermeister auf der Stelle.
Zehn Jahre lang legte er Stein für Stein,
rührte Beton und Mörtel ein.

Und für viele Jene und Diese
baute er ein Haus auf der Wiese.
Er war stets an der frischen Luft,
selbst beim Mauern einer Gruft.
Der Meister ließ ihn nicht nur schaffen,
sondern auch bei anderen gaffen.
Und das war sehr vorausschauend gedacht,
der Meister hat es nicht mehr lange gemacht.

Schwer erkrankt konnte er nicht mehr schreiben
und musste im Rollstuhl bleiben.
Mein Nachbar wurde seine rechte Hand
und sich nun im Büro wiederfand.
Angebote und Rechnungen setzen,
das Personal zur Baustelle hetzen.
Ihm verging sogar die Lust,
für einen Blick im Ausschnitt auf die Brust.

Mit Fünfzig kam die Lebenskrise,
er sehnte sich nach einer Wiese.
Drum ließ den Meister er im Stich
und schulte in der Abendschule sich.
Er wurde Gärtner für Feld und Flur
und schaffte nun in der Natur.
Er schuf mit dem Spaten in der Hand,
über ihm sich kein Meister fand.

Bis ihm plötzlich sein Spinalkanal
beim Bücken bereitete große Qual.
Das tägliche Wasser und Erde tragen
Schlug ihm nicht nur auf den Magen.
Der große Chef war endlos froh,
mein Nachbar kam in das Büro.
Dort träumt er nun, er wär ein Riese
und läge auf einer frischen Wiese.

23.06.2017 © W.R.Guthmann

Informationen zum Gedicht: Lebensträume

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23.06.2017
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